Bildnerisches Volkskunstschaffen im Bitterfelder Kulturpalast. Eine historische Bildbetrachtung


Marc Meißner

Mit dem Ölgemälde „Bildnerisches Volksschaffen“ aus dem Jahr 1972 setzte der Maler und Grafiker Bernhard Franke seinem Malzirkel ein künstlerisches Denkmal.

Der 1922 in Bitterfeld geborene Franke fand bereits 1950 nach seinem zweijährigen Studium bei Carl Crodels Malklasse an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle eine Anstellung als Maler für Produktionspropaganda im VEB Kartonfabrik Bitterfeld. In dieser Zeit lernte er seinen Kollegen Walter Dötsch kennen, der schon 1950 das Amateurkunstkollektiv für bildnerisches Volksschaffen des VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld (EKB) als Zirkelleiter übernommen hatte. Nach dem gemeinsamen Anschluss von Franke und Dötsch 1952 an die Malerbrigade „Lucas Cranach“ erhielt Franke ebenfalls einen „Freundschaftsvertrag“, und zwar mit dem VEB Farbenfabrik Wolfen (dieser ging 1969 mit dem EKB im VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld auf). Zwischen 1952 und 1979 leitete Bernhard Franke neben seiner freischaffenden Tätigkeit als Maler einen Zirkel für bildnerisches Volksschaffen. Damit gilt er bis heute als Pionier im Bereich der betrieblichen Amateurkunst. 1952 – lange vor der „Bitterfelder Konferenz“ – forderte die Anleitung von Laien unterschiedlichen Alters und verschiedener Berufe viel Mühe und ein besonderes Engagement in der Organisation der Zirkelarbeit. Zu dieser Zeit bestanden weder Erfahrungen auf dem Gebiet noch waren die institutionellen Stellen zur Koordinierung der betrieblichen Kulturarbeit bereits aufgebaut. Dennoch schaffte es Franke, mit Kreativität und pädagogischem Feingefühl den Laien Freude an der künstlerisch-schöpferischen Arbeit zu vermitteln und befähigte sie dabei, ein beachtliches Leistungsniveau zu erreichen.

Das vorliegende Gemälde gibt uns einen einzigartigen Blick auf das bildnerische Volksschaffen am Beispiel des Franke-Zirkels. Dem Betrachter präsentiert er ein farbenfrohes Konglomerat verschiedenster Szenarien und Aktivitäten eines Volkskunstkollektives. Es sind mehrere, aufgrund ihrer weißen Malerkittel als Zirkelmitglieder erkennbare Männer und Frauen unterschiedlichen Alters zu erkennen. Die Gesichter sind fokussiert. Franke zeigt, mit welcher Konzentration und Ernsthaftigkeit die Amateurkünstler ihrer schöpferischen Tätigkeit nachgehen und an der Erhöhung ihres künstlerischen Niveaus arbeiten. Eine Staffelei teilt das Werk optisch, ohne es dadurch auch thematisch zu trennen. Sie lenkt den Blick und bringt so eine Gliederung, eine gewisse Ruhe und Ordnung in die vielen kleinen Szenen künstlerischer Aktivitäten. Aus der Staffelei scheinen Schwaden aus bunten Farben emporzusteigen und erinnern an die austretenden Abgase der Bitterfelder Chemieindustrie. Es kann somit als eine Allegorie dafür gelten, wie die im Zirkel geschaffene Kunst und Kultur ihren Weg in die Welt hinausfindet. Schließlich arbeitete der Zirkel nicht nur regional, sondern war mit diversen Studienreisen wie 1961 nach Bulgarien oder der Ausstellung „Franke und sein Studio“ 1972 in Uljanowsk international aktiv.

Links neben der Staffelei stellt sich Bernhard Franke auch selbst als Zirkelleiter inmitten der Szenerie dar. Direkt dem Betrachter zugewendet verweister auf ein Bild (das an sein Ölgemälde „Mütterchen Baschkirien“ von 1974 erinnert) – so wie er wohl auch seinen Zirkel präsentieren möchte.

Er hält indessen ein Bild einer Frau – vermutlich aus der Sowjetunion stammend – in seinen Händen, welches sofort an Frankes Ölgemälde „Mütterchen Baschkirien“ von 1974 erinnert. Dies spiegelt jedoch auch die thematische Umsetzung der auf Studienreisen gesammelten Eindrücke bei der künstlerischen Arbeit des Zirkels wider. So entstand infolge einer Exkursion in die sowjetische Region um Ufa 1969 ein Reisebericht sowie zahlreiche Werke von Franke als auch den Volkskünstlern Herbert Ruland, Heinz Zwick, Wolfgang Lüder, Reiner Hagel, Alfred und Horst Hirschmit ausländischen Reisemotiven.
Im unteren, vorderen Bildteil sind zudem zahlreiche Kunstmaterialien zu finden, welche wiederrum die Vielfalt der künstlerischen Betätigung verdeutlichen. Neben Sonnenblumen, die für die Stilllebenmalerei stehen, ist weiterhin ein Lithographiestein, Pinsel und Farbenzu erkennen. Die Kosten für Materialien aber auch Weiterbildungen waren wie die Teilnahme am Zirkel kostenfrei. Das Kombinat finanzierte dies über den organisatorischen Träger der betrieblichen Kulturarbeit, dem Kulturpalast Bitterfeld.
Am rechten Bildrand sind weiterhin Zirkelmitglieder bei ihrer künstlerischen Arbeit zu erkennen, ob beim Portraitieren einer Frau oder der Anleitung einer Kindermalgruppe. Abgesehen von dem leistungsmäßig ausgerichteten Zirkel für bildnerisches Volksschaffen bestanden zusätzlich Kinder- und Jugendmalgruppen, welche zumeist von erwachsenen, qualifizierten Zirkelmitgliedern aus den Kollektiven von Walter Dötsch oder Bernhard Franke angeleitet wurden. So betreute die Volkskünstlerin Lore Dimter ab 1962 einen Kinderzirkelwie ebenso Gisela Leubner, Urda Gothmann oder Heinz Zwick.

Im linken Vordergrund verweist überdies die Dreiergruppe mit einer Druckwalze auf die unterschiedlichen künstlerischenVerfahren, die im Zirkel erlernt und angewendet wurden. So arbeiteten die Amateurkünstler an Öl- als auch Aquarellmalereien, Radierungen, Lithografien sowie an Siebdrucken, Radierungen und Linolschnitten oder sogar an Kupfertreibarbeiten und Tuschezeichnungen.
Der obere, linke Hintergrund zeigt nebstdem eine Besprechung von einem Zirkelmitglied mit einem Kulturfunktionär und zwei Arbeitern. Diese Szene verweist somit auf die betriebliche Kulturarbeit, bei der Arbeiter, Brigadiers und Gewerkschafter ihre kulturellen Bedürfnisse kundtun konnten und über Veranstaltungen oder die Planung von Ausstellungengemeinsam diskutiert wurde. Dies symbolisiert jedoch auch die Verbundenheit der Volkskünstler zu ihrem Kombinat, dem sie selbst zumeist angehörten. Des Weiteren trugen sie mit ihren Gemälden oder baugebunden Werken zur Verschönerung der Arbeitsbereiche als auchSozialräume bei, wie es bspw. die Hinterglasmalerei „Märchen der Völker“ in einem Betriebskindergarten verdeutlicht.
Die Verbindung zum Kombinat kommt jedoch ebenso in der daneben liegenden Szene zum Ausdruck, wo ein Zirkelmitglied chemische Anlagen malt. Das direkte Arbeitsumfeld, aber auch vor allem Arbeiter und ihre Brigaden galten als beliebtes Sujet der Laienkünstler, welche die Lebenswelt ihrer Kollegen somit kreativ umsetzten und ihre Werke durch Ausstellungen direkt im Betrieb einer kritischen Prüfung unterziehen konnten. Dies gilt nicht nur als wesentliches Element der 1959 begründeten kulturpolitischen Konzeption des „Bitterfelder Weges“, sondern zählte zugleich stets zum Selbstverständnis des Zirkels.

Ein weiteres wichtiges Element der Zirkelarbeit, die kollektive künstlerische Arbeit, wird im rechten Bildteil durch die Gruppe an der Staffelei verdeutlicht. Gemeinschaftlich entstanden im Zirkel neben Einzelwerken auch viele Gruppenarbeiten, bei denen es auf den gegenseitigen Austausch und das freundschaftliche Miteinander der Mitglieder besonders ankam. Der Zirkel entwickelte sich somit als eine Art zweite Familie, in der sich vertrauensvoll ausgetauscht und diskutiert werden konnte. So standen neben der Kunst immer auch die Geselligkeit und Gemeinschaft im Vordergrund. Zu ihren professionellen Leitern wie Bernhard Franke pflegten die Kollektiveein freundschaftliches Verhältnis.
Im rechten Hintergrund verweist eine Szenerie, bestehend aus einer Volkskünstlerin im Gespräch mit einem Bauern in brauner Jacke vor Feldern und einemTraktor, auf das Engagement des Zirkels, Kunst und Kultur auch in ländlichen Gegenden zu ermöglichen. So organisierten sie bspw. 1954 in Retzau und 1957 in Schierau Kunstausstellungen, worüber 1963 sogar die DEFA mit ihrem Dokumentarfilm „Ihre zweite Schicht“ unter der Regie von Nina Freudenberg berichtete. Anlässlich der zweiten Bitterfelder Konferenz erreichte der Zirkel zwei Jahre später in Retzau ein großes Atelierfest mit den Künstlern Willi Sitte und Karl Erich Müller.
Links neben der landwirtschaftlichen Szene ist außerdem ein Mann bei der Arbeit hinter Leinwänden, Bilderrahmen und einem Plakat zu erkennen, welches auf den Titel einer Ausstellung schließen lässt. Als unabdingbares Element der Zirkelarbeit wurde hierbei auf die zahlreichen Kunstausstellungen verwiesen, bei denen die Laienkünstler ihre Werke präsentierten und damit ihre Leistung zeigen konnten.

Die Bandbreite reichte hier von den Kunsttagen oder Betriebsfestspielen in den Räumen des Kulturpalastes über die Teilnahmen zu den Arbeiterfestspielen und bis hin zu Ausstellungen im sozialistischen Ausland, was das hohe künstlerische Niveau des Bitterfel der Franke-Zirkel widerspiegelte. So wurden sie 1959 mit dem Preis für künstlerisches Volksschaffen der ersten Klasse und mehrfach mit dem Kunstpreis des FDGB ausgezeichnet, wobei Bernhard Franke selbst die Verdienstmedaille der DDR überreicht bekam als auch Nationalpreisträger wurde.
Sein vorliegendes Gemälde „Bildnerisches Volksschaffen“ aus dem Jahr 1972 kann unter anderem nun zum kulturellen Erbe der Region Bitterfeld und der ehemaligen DDR zählen. Zudem hat er damit ein historisches Zeitdokument geschaffen, welches uns heute einen beispiellosen Eindruck von der Vielfalt der künstlerischen Arbeit des Bitterfelder Zirkels für bildnerisches Volksschaffen vermittelt.