Der Bitterfelder Weg


Historische Einordnung

(Katharina Lorenz 2021, Bearbeitung: Katja Münchow 2022)

»Greif zur Feder Kumpel!« Am 24. April 1959 prangten die Worte des Schriftstellers Werner Bräunig als Losung über der Bühne des Kulturpalastes Wilhelm Pieck auf dem Gelände des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld (EKB). Dort fand eine Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages Halle (Saale) statt. Sie ging als die 1. Bitterfelder Konferenz in die Geschichte ein. Teilnehmer waren der Ersten Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) Walter Ulbricht sowie den Kulturpolitiker Alfred Kurella. Sie formulierten das Ziel einer eigenständigen „sozialistischen Nationalkultur“ und beschrieben den „Weg“ dorthin. Der »Bitterfelder Weg« sollte als neue kulturpolitische Leitlinie die Kunst- und Werksproduktion in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) fortan entscheidend prägen.

Alle Kunstschaffenden wurden aufgerufen, sich mit den Arbeiterinnen und Arbeitern zu solidarisieren und den gemeinsamen Aufbau des Sozialismus zum Gegenstand ihres Schaffens zu machen. AutorInnen, KünstlerInnen und Intellektuelle sollten einerseits, z. B. durch Aufträge oder sogenannte Freundschaftsverträge, Erfahrungen im Produktionsalltag sammeln und aus Sicht der Werktätigen möglichst realitätsnah künstlerisch verarbeiten. Andererseits sollten sie der Arbeiterschaft in Form eines betrieblich geregelten Zirkelwesens Einblicke in ihr Schaffen bieten und sie dadurch ermuntern, selbst über ihr Leben in Tagebau, Stahlwerk oder Chemiefabrik zu schreiben.

Die künstlerische »Ankunft im Alltag« und das staatlich geförderte Laienschaffen wurden von der Literatur auf alle musischen Bereiche, insbesondere die bildende Kunst und Musik, aber auch Fotografie, Film, Theater etc. ausgeweitet. Zu den bekanntesten AutorInnen des Bitterfelder Weges zählten neben Bräunig unter anderem Christa Wolf, Erik Neutsch und Brigitte Reimann, die zum Teil auch im Bezirk Halle tätig waren. In der Musik zeigten beispielsweise die Komponisten Gerd Domhard und Günter Kochan auf verschiedene Weise Berührungen mit dem Bitterfelder Weg, während das Zirkelwesen zum Beispiel das Bitterfelder Arbeitersinfonieorchester hervorbrachte. Auf bildkünstlerischem Gebiet gelten die Künstler und Zirkelleiter Bernhard Franke und Walter Dötsch als Paradebeispiele und Vorbilder für die Umsetzung des Bitterfelder Wegs in seiner regionalen Ausprägung im Bezirk Halle.

Jawohl, diese Höhen, müssen gestürmt werden (Alfred Kurella)

Mit dem Aufruf »Sozialistisch arbeiten, lernen und leben« zählte die Jugend-Brigade Nikolai Mamai aus dem Aluminiumwerk des EKB zu den Pionieren der Bewegung Brigade der sozialistischen Arbeit. Um »im Bündnis mit der Intelligenz [...] die Höhen der Kultur zu erstürmen« (Alfred Kurella 1959), wurden die Arbeitskollektive durch Prämien und Wettbewerbe zu gemeinsamen kulturellen Aktivitäten nach der Schicht ermuntert, die wiederum in Brigade-Tagebüchern zu dokumentieren waren. In Zirkeln konnten die Werktätigen - angeleitet durch über „Freundschaftsverträge“ gebundene BerufskünsterInnen - künstlerisch kreativ werden und ihre Arbeiten in den Bereichen Literatur, Musik, bildende Kunst, Tanz und Theater bei zahlreichen Gelegenheiten präsentieren, beispielsweise zu den ab 1959 jährlich, später zweijährlich, stattfindenden Arbeiterfestspielen.

Zugleich waren die KünstlerInnen angehalten, bei der Motivwahl dem gesamtgesellschaftlichen Anliegen Vorrang einzuräumen. Dem entsprechen drei dominierende Themen: Aufbau des sozialistischen Staates, Arbeitsalltag sowie die Sehnsüchte der Werktätigen. Die Lebenswirklichkeit und angestrebte Realitätsnähe bei gleichzeitiger gesellschaftspolitischer Zielsetzung wurden dem Bitterfelder Weg schon bald zum Verhängnis. Die 2. Bitterfelder Konferenz im April 1964 feierte die Bitterfelder Idee weiter als Erfolgskonzept, doch immer mehr KünstlerInnen wandten sich von ihr ab. Auf das Bedürfnis nach Diskurs und Gedankenaustausch reagierte das XI. Plenum des ZK der SED 1965 mit gezielten Verboten und öffentlicher Diffamierung ausgewählter KünstlerInnen und ihrer Werke. Aus der Einheit von Kunst und Leben wurden Vereinnahmung und Vereinheitlichung. Die Anzahl der Freundschafts- und Werksverträge lag 1967 bereits unter dem Niveau von vor 1959. Die Bitterfelder Idee aber fand 1968 Eingang in die Verfassung der DDR, Artikel 18. Bis 1990 blieben „Die Förderung ... der künstlerischen Interessen und Fähigkeiten aller Werktätigen“ und die enge „Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes“ Verfassungsauftrag. Während der Bitterfelder Weg für die Mehrheit der KünstlerInnen zunehmend an Relevanz verlor, erlebte das Zirkelwesen vor allem in den Industrieregionen einen derartigen Aufschwung, dass es im Betriebsalltag zentrale Bedeutung erlangte – und mancherorts bis heute nachwirkt.