Helden für das Kollektiv


Katharina Lorenz

Sechs junge Männer drängen sich in der Hitze des Aluminiumwerksum einen Routinier aus den eigenen Reihen.Vor der Schmelzanlage unterweist der erfahrene Arbeiter seine Mitstreiter im Umgang mit der flüssigen Glut. Walter Dötschs Brigade Nicolai Mamai, Schmelzer-Nationalpreisträger Hübner hilft seinen Kollegen gilt heute als »Prototyp« des Brigadeporträts, einer zentralen Bildgattung des Sozialistischen Realimus.1
Die ideologisch instrumentalisierte Darstellung der Werktätigen durchwanderte während des 40-jährigen Bestehens der DDR verschiedene Phasen. Dominierte die Malerei anfangs noch die Figur des »neuen Menschen«,2 verschob sich um 1960 der motivische Fokus auf die Erziehung des Volkes zu umfassend gebildeten »sozialistischen Persönlichkeiten«.3 Die Entwicklung erreichte gegen Ende der 1960er ihren Höhepunkt mit der Apotheose der Werkschaffenden infolge des »wissenschaftlich-technischen Fortschritts«,4 bis ab Mitte der 1970 er die »realsozialistische« Lebenswirklichkeit die künstlerische Dekonstruktion der Arbeiterheldenvorantrieb.5

Dötschs Gemälde entstand 1961 am Übergangder ersten zur zweiten Phase und steht exemplarisch für die Einheitvon Arbeit, Kultur und Lebenin der DDR, wie sie ab 1959 mit der neuen Brigadebewegung und dem Bitterfelder Weg sowohl gesellschafts- als auch kulturpolitisch gefordert wurde.

»Sozialistisch arbeiten, lernen und leben«

Seit 1950 organisierten sich die Werktätigen in den Volkseigenen Betrieben der DDR nach sowjetischem Vorbild in kleineren Arbeitseinheiten, den Brigaden. Um die Wirtschaftsleistung des Staates voranzutreiben, wurden gemeinsame Planziele festgelegt und der Wettbewerb um deren (Über-)Erfüllung6 mit nationalen Auszeichnungen wie der des »Helden der Arbeit« politisch forciert.7 Anlässlich des zehnten Jahrestagesder DDR-Gründung initiierte der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) die neue Brigadebewegung »Sozialistisch arbeiten, lernen und leben«, verknüpft mit der Verleihung des Titels »Brigade der sozialistischen Arbeit«.8 Wie die Losung bereits ankündigt, implizierte die Kampagne einen Übergriff auf die Privatsphäre der Arbeiterschaft.9

Neben der Qualitäts- und Produktivitätssteigerung, sollte sie die Kollektive zu gemeinsamen kulturellen Freizeitaktivitäten ermuntern, die über Theater- und Konzertbesuche hinaus mit Brigade-Tagebüchern, Wandzeitungen und unter Einbeziehung der Familien »das gesamte Kaleidoskop des sozialistischen Lebens« abbildeten.10 Zum Auftakt inszenierte der FDGB einen entsprechenden Aufruf durch die Jugendbrigade »Nikolai Mamai« des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld (EKB), der dort im Januar 1959 über den Betriebsfunk abgesetzt wurde.11 DieVerkünder erhielten später auch den ersten Preis der neuen Brigadebewegung. Mit dem Streben nach mehr Wissen und kultureller Bildung agierten die jungen Arbeiter bereits ganz im Sinne der kurz daraufkulturpolitisch geforderten Annäherung von Kunst-und Werkschaffenden.12

Aufhebung der Distanz

Der Maler und Grafiker Walter Dötsch hatte unter anderem bei dem ehemaligen Bauhaus-Lehrer Oskar Schlemmer an der Akademie für Kunst und Kunstgewerbe zu Breslau studiert, bevor er 1945 nach seiner Flucht aus Schlesien in Bitterfeld eine zweite Heimat fand. Er übernahm die Leitung der betriebseigenen Kunstzirkel in der Filmfabrik Wolfen (ab 1949) und dem EKB (ab 1950) und schloss schon bald darauf mit beiden Werken sogenannte »Freundschaftsverträge« ab (1952/53).13 Nachdem die Künstlerschaft auf der Ersten Bitterfelder Konferenz im April 1959 aufgefordert wurde, zur Gewinnung von Themen und Motiven »enge, kontinuierliche Kontakte mit der Arbeit, dem Denken und Fühlen der Arbeiter« zu pflegen,14 wurde Dötsch zum Ehrenmitglied der Brigade Mamai ernannt und begleitete sie fortan in der Produktion.

Die eingangs erwähnte Lehrszene am Schmelzofen stellt das dritte Gemälde von zahlreichen Studien und Bildnissen dar, die der Künstler von den Mamais anfertigte. Die 1,22 Meter hohe und zwei Meterbreite Hartfaser zeigt die Arbeiter in Lebensgröße. In offener Kreisformation stehen sie dem Betrachter zugewandt gegenüber, als bilde er selbst ein Mitglied der Brigade,15 als ließe Dötsch den Außenstehenden an seiner statt zum stillen Zeugen des Produktionsalltags werden. So führt er dem Publikum die von der Kulturpolitik propagierte Aufhebung der Distanz zwischen Künstler- und Arbeiterschaft malerisch vor Augen. Die dichte Figurenkonstellation und die farblich betonte Wärmeentwicklung des dargestellten Schmelzprozesses verstärken die vermittelte Nähe, das Zugehörigkeitsgefühl und die Identifikation mit dem Bildpersonal, was von der DDR-Kritik lobend hervorgehoben wurde.16

Ein moderner Blick

Zugleich erstaunt der beinahe dokumentarische Einblick in die Arbeitswelt: Statt propagandistischer Überzeichnung beherrschen natürliche Haltungen undnüchterner Pragmatismus die Bildstimmung. Keine Spur von überschwänglicher Euphorie und stolzen Gesten des Aufbauoptimismus. Stattdessen kräftige junge Männer, denen der Schweiß auf der Stirn und die Planerfüllung im Nacken sitzen.17 Es habe ihn schon immer zur Gestaltung des Menschen gedrängt, kommentierte der Maler selbst sein Gruppenbildnis.18 Dötschs Interesse an der Varietät von Körperlichkeit und Ausdruck begründet sich mit seiner Studienzeit bei Oskar Schlemmer, den er sein Leben lang tief verehrte, und ferner mit einer gewissen Nähe zur halleschen Schule, die sich stark an der klassischen Moderne orientierte.19 Die immersive Qualität sowie formale Aspekte wie die starke Kontur, die leuchtende Farbkraft und die spannungsreiche Komposition verleihen dem Gemälde eine bemerkenswert moderne Ästhetik. Wurde das Bild wegen eben dieser modernistischen Züge anfänglich als »zu formalistisch« kritisiert, überzeugte es erst nach einem jahrzehntelangen Ping-Pong der Kritik als bedeutendes Zeugnis der Brigadebewegung und veranlasste Ernst Werner Schulze von der halleschen Kunsthochschule dazu, es auf seiner Trauerrede zu Ehrendes 1987 verstorbenen Künstlersschließlich zu »den Inkunabeln der bildenden Kunst« in der DDR zu erheben.20

Späte Erschöpfung

Dötsch blieb den beiden Malzirkeln und der Brigade Mamai bis zuletzt treu. Neben dem Gemälde von 1961 befinden sich in der Bitterfelder Sammlung des Landes Sachsen-Anhalt noch drei weitere Bilder, die der Künstler, damals bereits über 70-jährig, von dem EKB-Kollektiv angefertigt hatte, darunter Brigade Mamai 3 (1985). Das Großformat zeigt die einst gefeierten Helden der Arbeit gut 25 Jahre später: Die Kleidung sitzt nicht mehr ganz so locker, statt Schirmmützen bedecken nun Schutzhelme den mittlerweile ergrauten Schopf und dichter Bartwuchs versteckt das gealterte Kinn. Konzentriert hantieren die Männer mit Pumpen, Schläuchen, Drahtseilen und schwerem Gerät starr vor sich hin. Von links steuert ein Fahrzeugführer gedankenverloren ins Bild. Vor ihm wenden sich zwei Kollegen frontal dem Publikum zu, doch auch ihre Blicke reichen bloß ins Leere.

Mit der Leuchtkraft, Dynamik und Lebendigkeitdes früheren Gemäldes hat die Darstellung nur noch wenig gemein. Sie wirkt genauso blass, abgekämpft und müde wie das Bildpersonal. Die entbehrungsreichen Arbeitsbedingungen in der Aluminiumherstellung und der permanente Druck, bei Hitze und giftigen Dämpfen am 950 Grad heißen Schmelzofen21 die Planziele zu erreichen, forderten ihren offensichtlichen Tribut. Als Mitte der 1970er Jahre die Kritik an den Lebens- und Arbeitsbedingungen im »realen« Sozialismus sowie der sich abzeichnende »Absturz« des Systems zum vorherrschenden Thema der Arbeiter- und Brigadedarstellungen avancierte,22 konnte sich auch der späte Dötsch nicht mehr entziehen, der allgegenwärtigen Erschöpfung künstlerisch Ausdruck zu verleihen.


1 Siebeneicker, Arnulf: »Optimismus, Stolz, Arbeitsfreude und Wohlbefinden«. Kunstaufträge der Betriebe in der DDR. In: Kaiser, Paul; Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR: Analysen und Meinungen. Hamburg 1999, S. 145-158 (nachfolgend: Siebeneicker 1999), S. 151f.2
Bsp.: Walter Dötsch, Arbeiterporträt, (1958); Bernhard Franke, Eva (1960).
3 Bsp.: Willi Neubert, Stahlwerker II(1968); Willi Sitte, Arbeitertriptychon (1960) sowie Brigade Heinecke aus der Karbidfabrik des Buna-Werks (1963); Walter Dötsch, Flötistin aus dem EKB-Orchester (1964), Bernhard Franke, Chemiearbeiter (1968).4
Bsp.: Bernhard Franke, Junge Intelligenz in der Chemie (1968/69); Willi Sitte Leuna 1969 (1967-69); José Renau, Der Mensch unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution (1969).
5 Vgl. Sachs, Angeli: Erfindung und Rezeption von Mythen in der Malerei der DDR. Berlin, 1994, S. 9.; S. 77f. Bsp.: Wolfgang Mattheuer, Ausgezeichnete (1973/74); Horst Sakulowski, Porträt nach Dienstschluss (1976); Willi Sitte, Im LMW(1977), Sighard Gille Brigadefeier-Gerüstbauer (1975/77); Uwe Pfeiffer, Der Tod und der Arbeiter (1985), Andreas Wachter, Held der Arbeit (1984) usw.
6 Die ambitionierte Übererfüllung von Planzielen durch Einzelne wurde methodisch kultiviert. Bsp.: die »Hennecke-Bewegung« (1947 erfüllte der »Arbeiterverräter« Adolf Henneke im Zwickauer Steinkohlerevier 387 Prozent der Norm) vgl. Kaiser, Paul: Die Aura der Schmelzer. Arbeiter-und Brigadebilder in der DDR – ein Bildmuster im Wandel. In: Rehberg, Karl-Siegbert; Holler, Wolfgang; Kaiser, Paul (Hg.): Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen. Köln, 2012, S. 167-173 (nachfolgend: Kaiser 2012),S. 169, die »Christoph-Wehner-Methode« (1958 im Federwerk Zittau) vgl. Reichel, Thomas: »Sozialistisch arbeiten, lernen und leben«. Die Brigadebewegung in der DDR (1959-1989). Köln, Weimar, Wien 2011 (nachfolgend: Reichel 2011), S. 58, und schließlich die Initiative zur täglichen Übererfüllung durch den sowjetischen Bergarbeiter Nikolai Jakowlewitsch Mamai, Namensgeber der Jugend-Brigade »Nikolai Mamai« im EKB, ebenfalls 1958, ebd.
7 Vgl. Würz, Markus: Brigaden der sozialistischen Arbeit, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-gruenderjahre/wirtschaft-und-gesellschaft-im-osten/brigaden-der-sozialistischen-arbeit.html, zuletzt besucht am: 10.01.2022.
8 Ab 1962 »Kollektiv der Sozialistischen Arbeit« vgl. ebd.
9 Vgl. Reichel 2011, S. 56. Entschärfend: Duhm wies darauf hin, dass zur selben Zeit ein gewisser wirtschaftlicher Aufschwung die Hoffnung auf Modernisierung, weniger Arbeitszeit und damit mehr Freizeit weckteund die entsprechenden betrieblich forcierten Angebote zu ihrer Ausgestaltung vor diesem Hintergrund zu betrachten seien. Vgl. Duhm, Burghard: Walter Dötsch und die Brigade Mamai – der Bitterfelder Weg in Bitterfeld. In: Feist, Günther; Gillen, Eckhart; Vierneisel, Beatrice (Hg.): Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990. Aufsätze, Berichte, Materialien. Berlin 1996, S. 564-574 (nachfolgend: Duhm 1996), S. 566.
10 Ebd., S. 567.
11 Zum »Drehbuch«: Vgl. Reichel 2011, S. 56ff.