An die Arbeit, Pegasus!

Beitrag | Henner Kotte

aus: „Republik der Werktätigen“, Verlag Bild & Heimat, 2020

 

Wir wollen eine Stimme haben, weil wir von der Natur schon eine haben und der Mensch nicht allein vom Brote lebt, sondern von einem jeglichen Wort.

Wilhelm Weitling, 1841

 

„Wir stehen heute an der Wende der deutschen Geschichte. Sorgen wir alle in verantwortungsbewusster, loyaler und freundschaftlicher Zusammenarbeit dafür, dass wir uns der Größe der geschichtlichen Aufgaben gewachsen zeigen und dass wir dereinst vor dem Urteil der Geschichte bestehen können“, sprach Wilhelm Pieck am 7. Oktober 1949, dem Gründungstag des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates. Für das Kommende mussten auch die Künste begeistert werden, auf dass sie die Massen dafür begeistern: Denn „um uns selber müssen wir uns selber kümmern“. Stand also die Arbeiterklasse im Fokus der gesellschaftlichen Bemühungen, musste sie auch allen Künsten zum Gegenstand werden.

Arbeitsalltag und Produktionsschilderungen waren dem Literaturbetrieb seit Vormärz und Sozialistengesetz nicht fremd, erlebten aber in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts besonderen Aufschwung und Kenntnisnahme. Upton Sinclairs sozialkritische Romane Der Dschungel (1905, dt. 1906) und König Kohle (1917, dt. 1918) erzielten Millionenauflagen auch in Deutschland. Der 1928 gegründete Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller widmete sich vorrangig diesen Arbeitsthemen. Doch konnten damalige Texte nur die Ausbeutung anprangern, kaum Perspektiven geben: Hans Lorbeer Gedichte eines jungen Arbeiters (1925); Berta Lask: Wie Franz und Grete nach Rußland kamen. Erzählung für die Arbeiterjugend und Arbeitereltern (1926); Karl Grünberg: Brennende Ruhr (1928); Hans Marchwitza: Walzwerk (1932); Anna Seghers Die Gefährten (1932). Erstrebtes Ziel war gesellschaftlich das junge Sowjetrussland und künstlerisch dessen propagierter sozialistischer Realismus. In Wladimir Majakowskis Sendschreiben an die proletarischen Dichter (1926) hieß es: „So trete ich einst vors Zentral-Komitee / gegen die Bande poetischer Kriecher / und erhebe als Ausweis der KP / alle hundert Bände meiner parteiischen Bücher.“

Im sozialistischen Staate DDR machten sich auch die Schriftsteller ans Werk: Eduard Claudius schildert in seinem Roman Menschen an unserer Seite (1951) ganz im Sinne der Partei- und Staatslenker das Leben eines Aktivisten beim sozialistischen Aufbau. Romanheld und Thema wurden Vorbild und als „Musterbeispiel“ gepriesen. Hans Marchwitza macht in seinem Roman Roheisen (1955) den Bau eines Eisenhüttenwerks zum literarischen Gegenstand. Seine „Verhalbgötterung“ der Helden und offensichtliche Mängel bei Syntax und Grammatik waren selbst dem Parteisekretariat von Walter Ulbricht peinlich. Doch wurde der Autor Nationalpreis geehrt. Willi Bredel setzte im Parteiauftrag die Geschichte der Arbeiterfamilie Hardekopf aus Die Väter (1941) und Die Söhne (1949) mit Die Enkel (1953) fort. Wobei das Auftragswerk misslang. Die Literaturkritik jedoch war „froh, über die erbitterten Kämpfe der Autoren mit Stoff und Thematik der schwer genug errungenen Werke“ diskutieren zu können.

Andrerseits sprachen manche Werke – vor allem die Produktionstheaterstücke Heiner Müllers Der Lohndrücker (1956/57) oder Korrektur I (1957) und Korrektur II (1958) – eine kaum zu entschlüsselnde Sprache, selbst wenn die Handlung an der Produktionsbasis spielte. Die Texte blieben unverständlich und galten als intellektuell und abgehoben. Vor allem vermuteten parteilinientreue Genossen darin Zweifel am sozialistischen Aufbauwerk, Kritik und Konterrevolution.

Die lesenden Arbeiter also fühlten sich in den Werken der DDR-Literatur nicht getroffen, nicht gewürdigt und falsch dargestellt. Ihre Forderungen an eine sozialistische Literatur übermittelten sie im Nachterstedter Brief 1955 den Autoren: „Wir möchten mehr Bücher über den gewaltigen Aufbau, der sich auf allen Gebieten der Deutschen Demokratischen Republik vollzieht, über das Schaffen und Leben der Werktätigen. Schreiben Sie und gestalten Sie den Enthusiasmus, unsere Leidenschaft und das große Verantwortungsbewusstsein, das die Arbeiter im Kampf um das Neue beseelt.“ Wenn die führende Klasse gesellschaftliche Phänomene kritisierte, galt es zu handeln. Anna Seghers als Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes hält den Unmut für berechtigt, „weist aber gleichzeitig auf die Fülle der Wünsche hin und auf die Notwendigkeit gewisser Freiheiten des Schriftstellers bei der Stoffwahl“. Seghers selbst verfasst den Produktionsroman Die Entscheidung (1959) über den Arbeitsalltag in einem sozialistischen Walzwerk: „Jeder Stich – ein Stich gegen die Kriegshetzer!“ Die Wissenschaft bezeichnet das Werk als „sozialistischen Zeitgeschichtsroman“ und paraphrasiert damit das Scheitern der Autorin. Festzustellen ist: Die Literatur ist bereits auf dem Bitterfelder Weg, doch der wird in seinen Maßgaben noch deutlicher.

Parteichef Walter Ulbricht hatte auf dem V. Parteitag der SED festgestellt: „In Staat und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits Herr. Jetzt muss sie auch die Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen!“ So trafen sich auf Initiative des Mitteldeutschen Verlages am 24. April 1959 die Autoren Landes und diskutierten darüber. Ihre Gesprächspartner kamen aus Arbeitswelt und Politik: Offiziell galt es, „Kunst und Leben zu vereinen“. Als Tagungsort wählte man, den Weg schon weisend, das Kulturhaus des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld. Trotz aller kunstfreiheitlichen Beteuerungen stand fest, es war „mit allen Relikten des Tauwetters, mit allen Erscheinungen des Liberalismus, Kritizismus und Skeptizismus in der Literatur der DDR gründlich aufzuräumen. Die Kumpels sollten zur Feder und die Schriftsteller zu den Kumpels greifen. Mit anderen Worten: Die Berufsautoren wurden von der Partei aufgefordert, im Wettstreit mit den schreiblustigen Laien die proletarischen Helden im Alltag der DDR zu besingen und also Betriebsromane und sozialistische Dorfgeschichten zu verfassen.“ Fortan befand sich nicht nur die Literatur auf dem Bitterfelder Weg.

Die Losung „Greif zur Feder, Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!“ wird dem Schlosser und Schriftsteller Werner Bräunig (Rummelplatz, 1965/2007) zugeschrieben. Er hatte des Mottos ersten Teil kreiert, während der zweite von offizieller Seite hinzugefügt wurde. Die Schrift hing in schweren Samt hinter dem Präsidium und hinterließ trotz aller Ideologie und Parteidoktrin Wirkung. Vor allem in der Laienkultur: Arbeitertheater, Betriebskabaretts und Zirkel schreibender Arbeiter entstanden. In den Lesezirkeln wurde über Literatur gesprochen, aber auch eigene Werke vorgestellt. Die Gruppe im Baunkohlekombinat Erich Weinert Deuben veröffentlichte die Deubener Blätter. Mittel und Möglichkeiten in der kulturellen Massenarbeit und setzte damit Maßstäbe. Anthologien der Arbeiterschriftsteller erschienen. Das Poetenseminar der FDJ fand alljährlich in Schwerin statt und endete erst mit dem Herbst 1989 wie auch die Arbeiterfestspiele, das Festival der Laienkunst.

Die literarischen Zirkel leiteten namhafte Schriftsteller: u.a. Christa und Gerhard Wolf im Waggonbau Ammendorf, Brigitte Reimann in Schwarze Pumpe Hoyerswerda, Heiner Müller in Klettwitz, E.R. Greulich in Berlin, Hasso Grabner in Leuna. Manchem Autor sicherten die gezahlten Honorare die künstlerische Existenz. Viele spätere Autoren wirkten in den Zirkeln mit: Helmut Sakowski, Erik Neutsch, Charlotte Worgitzky, Volker Braun, Andreas Reimann, Manfred Jendryschik, Joachim Specht, Jan Eik, Wolfgang Hilbig, Bernd Jentzsch, … So fußen viele Meilensteine der DDR-Literatur auf dem Bitterfelder Weg oder wären ohne ihn nicht denkbar. Es war die Kunst der Autoren, dass sie über das platte Abbild der sozialistischen Produktion hinausweisend schrieben. Wo die Künstler diesen Anspruch nicht einlösten, sind ihre Werke zurecht vergessen und nur noch in Archiven greifbar.

Franz Fühmanns Reportage Kabelkran und Blauer Peter (1961) gilt als exemplarisches Beispiel für den Weg, den die Autoren zu gehen hatten. Realitätsnahe Polizeiarbeit ist Thema in Fühmanns Geschichten um Leutnant K. in Spuk (1961). Vor allem unter Jugendlichen wurde Brigitte Reimanns Erzählung Ankunft im Alltag (1961) heiß diskutiert. Bis heute gibt sie der Strömung einen Namen: Ankunftsliteratur. Die Autorin plante ein Buch, „in dem endlich einmal die wirklichen Probleme in einem Großbetrieb zur Sprache kamen: schlechte Arbeitsbedingungen, Schlampereien, bornierte Funktionäre, dürftige Wohnverhältnisse. Vor allem aber wollte sie über Leute berichten, die sich nicht kleinkriegen ließen und all diesen Widrigkeiten zum Trotz mehr als das Nötige taten.“ Reimanns Roman Franziska Linkerhand erschien erst postum 1974 und sorgte als Theaterstück wie als Verfilmung Unser kurzes Leben (1981) für Diskussionen: „Die junge ehrgeizige Architektin Franziska Linkerhand, aus bürgerlichem Elternhaus stammend, geht voller Enthusiasmus nach Neustadt am östlichen Rand der DDR, um ihre Ideale von menschenwürdigem Städtebau in dem neu entstehenden Ort zu verwirklichen. Ihr Anspruch gerät in scharfen Konflikt mit den ökonomischen Zwängen, mit ideologischer Verkrustung und der resignativen Haltung ihrer Architekten-Kollegen.“ Die Stadt ehrt Brigitte Reimann mit Skulptur, Straße und Begegnungsstätte. „Wir haben das Land umgekrempelt. Wir haben uns selbst umgekrempelt.“

Volker Braun revolutionierte mit Die Kipper (1962/64), einem Theaterstück aus dem Tagebau, die Bühnen. Vor allem der Ton – realitätsnah, doch philosophisch – war ungehört neu: „Wir stehn ganz am Anfang. Es wird ein Überfluss an materiellen Gütern dasein, ein Überfluss an Gedanken und ein Überfluss an Gefühlen. Es wird gar keinen Grund mehr geben, irgendeinen Menschen nicht zu lieben. Ich sage, der Mensch des neuen Jahrtausends wird leben, wie es angenehm ist.“

Christa Wolf verarbeitet in Der geteilte Himmel (1964) ihre Erfahrungen aus Ammendorf, sie siedelt ihren Roman im Waggonwerk an. Geteilt ist nicht nur der Himmel, sondern auch Deutschland. Heldin Rita Seidel muss entscheiden: In der DDR bleiben oder, wie der Freund das Land, dem sie Bildung, Heimat und Kultur verdankt, verlassen? Geborgen fühlt sich Rita bei den Kumpels ihrer Brigade, die ihr stets den Rücken stärken. Konrad Wolfs Verfilmung (1964) setzte ästhetisch neue Maßstäbe und gilt als Beginn der deutschen Nouvelle Vague.

Der Vorabdruck von Erik Neutschs Roman Die Spur der Steine (1964) in der Kulturzeitschrift Forum stieß auf harsche Kritik, so dass der Autor fast die Lust am Weiterschreiben verlor. Die Romanverfilmung von Frank Beyer wurde nach ersten Aufführungen verboten. In Hans Konrads Kritik am 6. Juli 1966 hieß es im Parteizentralorgan Neues Deutschland: „Der Film wird der Größe des Themas nicht gerecht. Er gibt ein verzerrtes Bild von unserer sozialistischen Wirklichkeit, dem Kampf der Arbeiterklasse, ihrer ruhmreichen Partei und dem aufopferungsvollen Wirken ihrer Mitglieder. Er erfasst nicht das Ethos, die politisch-moralische Kraft der Partei der Arbeiterklasse und der Idee des Sozialismus, bringt dafür aber Szenen auf die Leinwand, die bei den Zuschauern mit Recht Empörung auslösten.“ Nicht nur Die Spur der Steine fiel der Zensur zum Opfer. Eine Anzahl von Defa-Filmen verschwanden im Tresor. Dies war das Resultat der II. Bitterfelder Konferenz.

So einfach wie die Genossen sich`s gedacht, ließ sich die Verbindung Arbeit/Kunst nicht herstellen. Man rief zur II. Bitterfelder Konferenz – gleiches Datum, gleicher Ort – fünf Jahre später. Der Kunst wurde im Beschluss zur Aufgabe gemacht, die Menschen gleich des Bildungsauftrags in der Schule zu sozialistischen Persönlichkeiten heranzubilden. Zweifelnde Helden, Widerspruch und andrer Standpunkt war (zumindest künstlerisch) zu meiden. Der Doktrin fiel fast die gesamte Spielfilmproduktion kommender Jahre zum Opfer. Sie wurden verboten: u.a. Monolog für einen Taxifahrer (1962/90), dessen Regisseur Günter Stahnke und Drehbuchautor Günter Kunert daraufhin erhebliche Karrierebeschränkungen erdulden mussten. Hermann Zschoches Karla (1965/90) nach einem Drehbuch von Ulrich Plenzdorf zeigt eine junge Lehrerin „zwischen dem Beharren auf der eigenen Meinung und opportunistischem Schweigen“. Die Komödie Hände hoch, oder ich schieße (1966/2009) mit allen Humor-Stars der DDR wie Rolf Herricht, Eberhard Chors und Gert E. Schäfer scheiterte, weil er den „gegenwärtigen Aufgaben zur stärkeren Bekämpfung der Kriminalität“ zuwiderlief. Jahrgang 45 (1966/90) zeigte die Jugend, die den sozialistischen Aufbau meistern sollte, doch Hauptheld Alfred, genannt Al, „wirkt in seinem Habitus nahezu asozial. Personen und Umwelt sind so gestaltet, daß sie eher der kapitalistischen als der sozialistischen Lebenssphäre zugerechnet werden könnten. Da der Film jedoch eindeutig vorgibt, einen Ausschnitt aus unseren gesellschaftlichen Verhältnissen zu reflektieren, wird er zutiefst unwahr und führt zu Aussagen, die gegen die sozialistische Gesellschaft gerichtet sind.“ Die Filme erweisen sich in der Nachschau als erstaunliche Seismografen der Stimmung im sozialistischen Land und deuten die Gründe des Scheiterns schon an.

Auch der zweite Bitterfelder Weg wies in eine Sackgasse. Die angestrebte Gleichsetzung von Berufs- und Laienkunst führte „zu Differenzen mit prominenten Autoren wie beispielsweise Christa Wolf, Stefan Heym und Peter Hacks über die kritische Funktion und die gesellschaftlichen Aufgaben der Kunst. Insbesondere wurden Instrumentalisierung und Reglementierung zu Zwecken der Parteipropaganda und eine zunehmende Bevormundung befürchtet.“ Die Machtübernahme Erich Honeckers führte zu geduldeten Abweichungen vom Bitterfelder Weg. Später war er kaum noch ersichtlich, geschweige denn künstlerisch zu begehen.